Was wäre wenn wir die Übergewichtsepidemie in Deutschland vollkommen falsch angehen? Kann es sein, dass wir jahrzehntelang Ursache mit Wirkung verwechselt haben? Auf dieses Fundament wird die These gestellt, die seit geraumer Zeit in Medien und in der Fachliteratur diskutiert wird und die ich heute schlaglichtartig beleuchten will. Anlass bietet sowohl die Originalpublikation erschienen am 16. Mai diesen Jahres in der Zeitschrift Journal of the American Medical Association (JAMA) als auch der dazugehörige New York Times Artikel. Darin formulieren David S. Ludwig von der Harvard Medical School, Boston und Mark I. Friedman von der Nutrition Science Initiative, San Diego die Schritte, nach denen es ihrer Meinung nach zu Übergewicht kommt. Es sei vorweggenommen, dass dabei die einfache Gleichung aus "Iss weniger und verbrauch mehr" ad acta gelegt werden muss.
Angesichts der Zahlen zu Übergewicht in Deutschland und weltweit, ist klar: das Problem hat gewaltige Ausmaße angenommen und kurzfristige Abhilfe ist nicht in Sicht. Genau auf diesen Nährboden musste eine alternative Theorie treffen, um gehört zu werden, mag sie auf den ersten Blick noch so abwegig klingen. Ja, geradezu blasphemisch kommt sie daher. Der Kern des Problems ist laut Autoren nicht die Überernährung als Ursache des Übergewichts, sondern die Überernährung als Folge des Übergewichts. Was paradox klingt, wird klarer, wenn wir versuchen von der Ebene unseres Stoffwechsels aus zu argumentieren.
Energieaufnahme und Energieabgabe werden dynamisch reguliert. Das wird allein schon daran erkennbar, dass diätgeplagte Personen durch Verknappung der Energiezufuhr Signale im Körper auslösen, die dieser bedrohlichen Verknappung entgegen wirken sollen. Was der Körper hat, das gibt er nicht gerne wieder her! Dazu gehört die Erniedrigung des Grundumsatzes genauso sehr wie das Auslösen von Hungergefühl. Eine zentrale Rolle im Zucker-und Fettstoffwechsel kommt dem Bauchspeicheldrüsenhormon Insulin zu. Insulin vermittelt die Aufnahme von aus dem Darm absorbierten Nährstoffen aus dem Blut in die Zellen. Verabreichung von Insulin führt nicht selten zu einer Gewichtszunahme, ein Grund warum man Insulin zu den Wachstumshormonen zählt. Versuche an Ratten haben unter anderem gezeigt, dass Tiere, die einfache, schnell verfügbare Kohlenhydrate zu sich nehmen (hoher glykämischer Index) mehr Fett aufbauen als Artgenossen, die eine Kost mit niedrigerem glykämischen Index angeboten bekamen und das bei gleichem Kaloriengehalt des Futters. Setzte man beide Gruppen auf Diät, beobachteten die Forscher einen höheren Fettzuwachs bei denjenigen Mäusen, die hoch glykämische Kost bekamen. Es ist allgemein bekannt, dass schnell anflutende Kohlenhydrate mit einer höheren Insulinausschüttung einhergehen. Und genau hier liegt der Hund begraben. Das erhöhte Übergewicht dieser Ratten lässt sich zum einen, so sind sich die beiden Autoren einig, nicht mit der bisherigen kalorienzentrierten Theorie in Einklang bringen und zum anderen ist dem Hormon Insulin eine zentrale Rolle einzuräumen. Eine Alternative musste also her!
Der neue Fokus war schnell gefunden. Die Zusammensetzung (Qualität) der Ernährung und nicht die absolute Zahl an Kalorien musste entscheidend sein. Vielleicht ist die Überernährung, von der wir im Zusammenhang mit Übergewicht sprechen, eine Folge fallender Nährstoffwerte (Glucose, Fette, Aminosäuren) im Blut, hervorgerufen durch das dysregulierte Insulin? Wenn es mit einem Überangebot an einfach Kohlenhydraten konfrontiert wird, sorgt Insulin für die Lagerhaltung der Nährstoffe im Körper, allen voran Zucker in Form von Fett. Der Körper würde dann, um der drohenden Verknappung im Kreislauf Einhalt zu bieten, nur allzu verständlich mit einem gesteigerten Hungergefühl antworten. Die Überernährung würde dem endgültigen Übergewicht damit vorausgehen. Eine Diät hingegen würde den Teufelskreis nur verschlimmern, indem sie die Verfügbarkeit an Nährstoffen weiter zuspitzt.
Hier das Model ihrer alternativen Theorie zur Entstehung von Übergewicht
Kurze Kritik:
Auch wenn der Artikel mit dem Anspruch daherkommt ein vollkommen neues Model aufzustellen, so fällt es mir dennoch schwer zu erkennen, was genau so neuartig am Model sein soll. Der kausale Zusammenhang zwischen Überernährung und Übergewicht ist zwar deutlich, aber am Ende aller Tage bedient man sich wieder des alten Models, um die unmittelbaren Ursachen von Übergewicht zu benennen. Den entscheidenden Unterschied sehe ich in folgendem. Wo die konventionelle Theorie die Verantwortung des Individuums zu einem Lebensstil der Überernährung und Bewegungsarmut ins Zentrum stellt (=eigene Schuld), argumentiert die alternative Theorie über verantwortliche physiologische Prozesse. Die eigene Schuld am "bedauernswürdigem" Zustand wird abgegeben. Aus einem "du bist faul und willensschwach" wird ein "du bist schlecht informiert und genetisch vorbelastet".
Die Autoren geben selbst zu, dass den Kalorien eine wichtige Bedeutung zukommt, wenn sie im letzten Absatz folgern "ultimetley, weight loss requires consuming fewer calories than expended", was ein wenig verwundern muss. Haben sie nicht eine alternative Theorie angekündigt? Die Berücksichtung der Qualität der Ernährung sehen sie vernachlässigt, doch reicht das aus um ein neues Model zu konstruieren. Tatsächlich predigen Fachgesellschaften seit Jahren von komplexen Kohlenhydraten und einem niedrigen glykämischen Index.
Als Ernährungswissenschaftler, der ketzterisch gerne Bewegung über Ernährung stellt, was ihre Bedeutung im Kontext Stoffwechselgesundheit angeht, bin ich doch sehr überrascht, dass im alternativen Model Bewegungsmangel scheinbar keine große Rolle mehr als Auslöser oder Triebkraft für Übergewicht spielen soll. Lediglich als Folge niedriger Nährstoffspiegel im Blut steht Bewegungsmangel wieder im Rahmen der physiologischen Mechanistik, die so markant für diese Theorie ist, gänzlich ohne persönliche Verantwortung. Allerdings muss man zugeben, dass beide Artikel sehr kurz gehalten sind und vieles klarer würde, wenn weitere Details erläutert würden.
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