Die epidemiologische Ernährungswissenschaft: ein Fallbeispiel



Die Epidemiologie als wissenschaftliche Disziplin ist längst nicht mehr auf ihr ursprüngliches Anwendungsgebiet im historischen Kontext des 19ten Jahrhunderts beschränkt, wo sie zu den beachtlichen Fortschritten auf dem Gebiet der Prävention von Infektionskrankheiten maßgeblich beitrug. So unumstritten ihr Potential auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten ist, so kontrovers wird ihre Rolle als wirklich erhellendes Instrument in den medizinisch geprägten Wissenschaften und der Ernährungswissenschaft diskutiert. Mitunter lassen sich sogar laute Stimmen vernehmen, die der Epidemiologie einen mehr pseudowissenschaftlichen Charakter zuschreiben. Kritiker werfen der Epidemiologie vor, dass sie zwar Hypothesen generiere, allerdings nicht über die nötigen Mittel verfüge diese experimentell zu bestätigen. Das Ergebnis der epidemiologischen Arbeitsweise seien Korrelationen (auch als Assoziation bezeichnet) zwischen gesundheitsbezogenen Faktoren und Krankheiten. Die Skepsis liegt darin begründet, dass man von Korrelationen aus nicht zwangsläufig auf kausale Zusammenhänge schließen kann. Anders: Was zusammen passiert, muss nicht zusammengehören. Nur weil ich zur Winterzeit häufiger an Erkältungen leide und es zu dieser Zeit auch häufiger schneit, muss der Schnee nicht Auslöser meiner Erkältung sein. 




Am 16. Januar, konnte man in der Rubrik „Ernährung & Fitness“ der Online-Ausgabe des SPIEGELs folgenden Artikel in Empfang nehmen



Drei Portionen Blaubeeren und Erdbeeren pro Woche sollen genügen, um das Herzinfarkt-Risiko deutlich zu senken […]"


Der Artikel steht symptomatisch für eine sehr populäre Art der Berichterstattung. Vorneweg, der Artikel gehört nicht zu den Schlimmsten, denn das letzte Drittel befasst sich tatsächlich mal mit einer kritischen Betrachtung der angeführten Studie mit dem Endergebnis: die Studie sei überinterpretiert, d.h. die Studie gibt vor Zusammenhänge hergestellt zu haben, die das Design der Studie überhaupt nicht zulassen. Trotz allem gibt zumindest der Titel des Artikels gut wieder wie in der Öffentlichkeit mit epidemiologischen Studien umgegangen wird. Man wirft sich voreilig und unkritisch auf sie und brüllt ihre Hypothese in den Raum als handele es sich hier um eine felsenfeste und unverrückbare Tatsache. Am Ende können wir doch nur Allgemeinplätze lesen. Dass dabei der sehr wesentliche Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität auf der Strecke bleibt, ist als Merkmal der medialen Berichterstattung zu werten. Eine kritische Überprüfung der Thesen kann man vielen fachfremden Journalisten kaum vorwerfen, allerdings sollte der Grundsatz gelten: worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen. Anlass zur journalistischen Betätigung der promovierten Biochemikerin und Ressortleiterin „Gesundheit“ des SPIEGEL-Online war der folgende Fachartikel, publiziert in der Fachzeitschrift Circulation der American Heart Association.

Aedín Cassidy, Kenneth J. Mukamal, Lydia Liu, Mary Franz, A. Heather Eliassen and Eric B. Rimm

[Hohe Anthocyan-Zufuhr ist assoziiert mit einem verminderten Herzinfarktrisiko in jungen und mittelalten Frauen]
[Anthocyane sind eine Untergruppe der Flavonoide, denen man positive Eigenschaften zuschreibt, wie so vielen sekundären Pflanzenstoffen]

Ich will im Folgenden aber mehr über die Studie selbst sprechen als über den darüber berichtenden Artikel, denn es gibt nicht nur Fälle von mittelmäßigem Journalismus, sondern auch Fälle von mittelmäßiger Wissenschaft. Was genau fragwürdig an der Studie ist, will ich erläutern. Zunächst kurz zum Design der Studie. Die Autoren haben 93.600 Frauen im Alter von 25-42 Jahren über einen Zeitraum von 18 Jahren im Rahmen der Nurse's Health Study (NHS) II beobachtet. Zu Beginn der Studie (1989) waren alle Probandinnen gesund. Untersucht wurde der Zusammenhang zwischen der Zufuhr bestimmter sekundärer Pflanzenstoffe (Flavonoide) und dem Risiko einen Herzinfarkt (myokardialer Infarkt) zu erleiden. 405 Herzinfarkte später konnten die Autoren einen statistischen Zusammenhang zwischen den Personen mit der höchsten Zufuhr an einem bestimmten Flavonoid (Anthocyane) und den Personen mit der niedrigsten Zufuhr dieses sekundären Pflanzenstoffes herstellen. Eine hohe Anthocyanzufuhr war assoziiert mit einem um 32% erniedrigten Risiko einen nicht tödlichen Herzinfarkt zu erleiden. Bezogen auf die Lebensmittel, die in der Studie durch Fragebögen erfasst wurden, bedeutete dies, dass mehr als 3 Portionen von Blaubeeren und Erdbeeren in der Woche zu einer 34%-igen Reduktion des Herzinfarktrisikos beitrügen.


Wo ist nun das Problem, oder besser gesagt wo sind die Probleme ? Der zentrale Punkt (für mich) ist die Art und Weise wie der Verzehr von Lebensmitteln überhaupt erfasst worden ist. Es herrscht Uneinigkeit unter Epidemiologen inwiefern der sogenannte Food-Frequency-Questionnaire (FFQ: Abfrage der Häufigkeit des Verzehrs einzelner Nahrungsmittel) noch zeitgemäß ist und ob die Validität dieser Methode ausreicht, um ein realistisches Bild der Verzehrshäufigkeit oder gar der Nährstoffzufuhr abzuzeichnen. Die Forschergruppe rund um Dr. Walter Willett (Nurse's Health Study), sowie die Autoren der vorliegenden Studie rund um Cassidy und Rimm bestehen noch darauf kein Problem in der Anwendung des FFQs zu sehen und zitieren auch fleißig Studien, die die Reproduzierbarkeit und Validität ihrer FFQs zeigen sollen. Es scheint oft als bräuchte man hier nur den einen Versuch zu unternehmen eine Validierung durchzuführen, um eine Methode anschließend als "validiert" bezeichnen zu können. Ich bin da ehrlich gesagt nicht ganz von überzeugt und bleibe skeptisch. 

Anmerkung: Eine Validierung ist ein Verfahren, das zeigen soll, dass eine gegebene Methode das leisten (z.B. messen) kann, was sie leisten soll. Sie ist gewissermaßen die Bestätigung, dass damit vernünftige Ergebnisse erzielt werden können.

Diese FFQs werden in großen prospektiven Beobachtungsstudien wie der Nurse's Health Study und der Health Professionals Follow-Up Study alle 4 Jahre (!) durchgeführt. Das heißt im Klartext, dass sich die Probanden möglichst genau daran erinnern sollen, was sie an Lebensmitteln, wieviel und wie oft sie sie in den letzten 4 Jahren verzehrt haben. Bei saisonalen Produkten, zu denen auch Erdbeeren und Blaubeeren zählen, soll jeder Proband abschätzen wieviel er davon durchschnittlich auf alle 48 Monate gerechnet verzehrt hat, obwohl er diese vermutlich nur in einem begrenzten Zeitraum des Jahres (Erntezeit/Saison) erwerben und verzehren konnte. Allein wenn ich darüber nachdenke, was ich letzten Monat zu mir genommen habe, kommt großes Rätseln bei mir auf. Wie verhält sich das über einen Zeitraum von 48 Monaten bei jungen und mittelalten Frauen, die aktiv im Berufsleben stehen oder womöglich in der Zwischenzeit schwanger wurden ? Und da kommen wir auch schon zu einem nicht unwesentlichen Punkt. Neben all den anzunehmenden Schwankungen durch das Erinnern selbst geht die Studie nämlich davon aus, dass die Effekte, die Bestandteile der Ernährung auf unseren Organismus ausüben, identisch sind, ob sie nun konzentriert in einer Saison zu sich genommen oder regelmäßig zugeführt werden. Das dieser Ansatz ganz schön simplistisch daherkommt, kann sich jeder denken. Gerade bei Erkrankungen des Herz-Kreislauf-System würde eine Differenzierung Sinn ergeben, wo ein protektiver Effekt auf unser Gefäßsystem vor allem dann bedeutsam wird, wenn dieser durch regelmäßigen Kontakt eines Stoffes mit ihm zustande kommt. Die angeführten Validierungsstudien schaffen es an dieser Stelle nicht meine Skepsis vollkommen zu beseitigen. 


Es werden 3 Studien zitiert. Davon bezieht sich eine Studie auf einen Validierungsversuch aus dem Jahre 1989, in welchem der FFQ noch keine Frage zum Erdbeer und Blaubeerverzehr beinhaltete. Was so viel bedeutet wie " wir haben keine Ahnung, ob wir auch valide Ergebnisse für diese beiden Früchte erhalten können". Daneben wurde die Validierung nur anhand eines 1-Jahres Abstandes durchgeführt und gegen Ernährungsprotokolle verglichen, die an sich ebenfalls nur einen Surrogat für die wahre Nährstoffzufuhr darstellen, diesen jedoch nicht treu wiedergeben! In dieser Studie wird die Tatsache, dass selten verzehrte und saisonale Produkte häufig zu "schlechteren" Validierungsergebnissen führen, offen angesprochen. An sich werden der Verzehr von Früchten und Gemüse auch oft überschätzt (sozial wünschenswertes Ernährungsverhalten). Die zweite Studie bezieht sich auf eine männliche Population, ist also möglicherweise nicht uneingeschränkt auf Frauen übertragbar, enthielt allerdings Fragen zu Erdbeeren und Blaubeeren. Die Studie war mir aber leider nicht zugänglich. Die dritte Validierungsstudie verlief über 3-4 Jahre, enthielt jedoch auch keine Angaben zum Erdbeer oder Blaubeerverzehr. Im Großen und Ganzen überzeugen mich die Studien hier also nicht ausreichend. In der wissenschaftlichen Community wird das Problem ebenfalls angesprochen, z.B. hier "Is It Time to Abandon the Food Frequency Questionnaire?"


Der große Sprung den die Autoren anschließend machen, ist schon mindestens einen Absatz wert. Obwohl sie in ihrem Artikel explizit darauf hinweisen, dass der verwendete FFQ nicht für die Unterscheidung von Subklassen von Flavonoiden, wovon Anthocyane eine von vielen Subklassen darstellen, validiert wurde, übersetzen sie ihre semi-quantitativen FFQ-Daten in absolut quantitative Zufuhrdaten an Flavonoiden, ohne überhaupt zu wissen, ob dies verlässliche Aussagen zu Tage fördern kann. Das geht übrigens auf simple Art, indem man Flavonoidgehalte von Lebensmitteln aus Datenbanken heranzieht und diese einfach mit der Portion und der Häufigkeit des Verzehrs der Probanden verrechnet. Genau dafür werden Epidemiologen gerne mal gerügt, viele Berechnungen am PC und keine Experimente. Dass es sich im Fragebogen in der Kategorie Blaubeere bzw. Erdbeere um eine Lebensmittelgruppe aus frischen, gefrorenen sowie eingedoste Produkten handelte, ohne die Möglichkeit offen zu lassen weiter zu spezifizieren welche Art von Blaubeere oder Erdbeere nun tatsächlich in Vergangenheit konsumiert wurde, spielte in der Auswertung dann keine Rolle mehr. Welche Sorte ? Scheinbar unwichtig. Wenn man all die Störfaktoren und Limitationen bei der Erfassung der Verzehrshäufigkeit und der Benutzung von Nährstoffdatenbanken kennt, dann dürfte eine Sensitivität von 0,1 mg mehr als fragwürdig sein, wie sich an anderer Stelle schon durch einen kritischen Kommentar zu einer Studie von Cassidy et al. über Anthocyane und Bluthochdruck zeigt.


Fazit:

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Studie selbst nicht besonders streng an wissenschaftlichen Richtlinien zu orientieren scheint. Die Kritik von Prof. Bernhard Watzl vom MRI in Karlsruhe im SPIEGEL-Artikel und meine Ansicht darüber zusammengenommen (unsere Kritik überlappt nicht - mir sind andere Dinge wichtig), lassen solche Wundermeldungen à la 3 Portionen Erdbeeren oder Blaubeeren können vor Herzinfarkt schützen, doch einigermaßen desillusioniert zurück, zumal mit der Assoziation immer noch nicht kausal gezeigt werden konnte, dass Anthocyane das Herzinfarktrisiko wirklich vermindern. Dafür werden allerdings auch ein ganzes Bündel an unterschiedlichen Studien benötigt. 
Allein der sehr wahrscheinliche Umstand, dass kaum eine Probandin tatsächlich über 4 Jahre hinweg mehr als 3 Portionen dieser Früchte pro Woche zu sich genommen haben wird, zeigt, dass solche Studien statistische Werke sind, die man nie ungeprüft lassen sollte. Als kleine Anmerkung sei noch erwähnt, dass weder die fünf weiteren Subklassen an Flavonoiden, noch der Gesamt-Flavonoidgehalt der Ernährung den signifikanten Zusammenhang zu einem reduzierten Herzinfarktrisiko reproduzieren konnte. Was bedeutet dies nun alles ? Sind Blaubeeren und Erdbeeren nun "gesund" oder nicht ? Ich würde sagen (auch wenn ich den Begriff "gesund" nicht allzu gerne verwende), ja sie sind es, aber die vorliegende Studie ist höchstwahrscheinlich kein Beleg dafür.

Thomas Gantert

PS: Ich werde versuchen in Zukunft Beiträge kürzer zu fassen :D


Abbildung: Ambro: image ID: 10039423 from freedigitalphotos.net

1 Kommentar:

  1. Gute Artikel, Thomas! Und ich würde die Beiträge nicht kürzer fassen - es sollen ja auch fachfremde Leser noch verstehen können, worin deine Kritik besteht :)
    Lg Sina

    AntwortenLöschen