Die European Food and Safety Authority im Zeitalter evidenzbasierter Werbung


Der Transfer von ernährungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen in die für die Produktentwicklung zuständigen Abteilungen der Lebensmittelindustrie hat große Bedeutung für den Markterfolg neuartiger und innovativer Produkte und ist mittlerweile unaufgeregte Routine geworden. Wieso sollten wissenschaftliche Erkenntnisse denn auch nicht ernst genommen werden und Lebensmittel mit wahrem (d.h. evidenzbasiertem) gesundheitlichen Zusatznutzen nicht entwickelt und dem Konsumenten angeboten werden dürfen? Die Frage nach der Notwendigkeit dieser Produkte und der endgültigen Kaufentscheidung könnte ohnehin weiter, dem dann hoffentlich aufgeklärten, Supermarkt-Besucher überlassen werden. Problematisch sind gesundheitsbezogene Angaben auf Lebensmitteln dann, wenn sie nur schwach wissenschaftlich untermauert sind, etwa wenn sich das spezifische Forschungsfeld noch in einem sehr frühen Stadium mit vorläufigen Erkenntnissen befindet oder wenn die Studienlage tendenziös und irreführend für den Konsumenten ausgelegt wird. Viele Jahre konnte die Lebensmittelindustrie daraus doppelt Profit schlagen. Zum Einen brauchte man selbst keinen riesigen und kostenintensiven Forschungsaufwand scheuen, um sich "Wissenschaft" auf das Produkt zu etikettieren. Zum Anderen konnte man dem Verbraucher vortäuschen, er hätte es überhaupt nur mit einer wissenschaftlich fest abgesicherten Angabe zu tun. Wie die European Food and Safety Authority (EFSA; Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) dem im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 ein Ende setzt, soll im Folgenden dargestellt werden.


Die European Food and Safety Authority, das Referat Ernährung und das NDA-Gremium

Als Folge von Skandalen im Lebensmittelsektor in den 90er Jahren wurde die EFSA per Verordnung (EG) Nr. 178/2002 am 28. Januar 2002 als zentrales, übernationales Organ für eine unabhängige, wissenschaftlich fundierte Risikoanalyse auf dem Gebiet der Lebens-und Futtermittel errichtet. Diese Risikoanalyse dient den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als Entscheidungshilfe in Fragen der Rechtsetzung und Politik und umfasst drei Schritte: Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation. Sie soll die Lebensmittel-und Futtermittelsicherheit entlang ihrer gesamten Produktionskette, beginnend mit der Primärproduktion bis hin zum Verkauf und zur Abgabe ihrer Produkte, gewährleisten. Dadurch trägt sie zum Schutz der Gesundheit des Verbrauchers bei und soll in diesem Rahmen auch die Tiergesundheit, den Tier-und Pflanzenschutz berücksichtigen (Kapitel III, Artikel 22 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002). Die Aufgaben der EFSA in Video-Format nochmal hier:
                

 Verbraucherschutz durch Wissenschaft -- vom Erzeuger zum Verbraucher

(youtube-Kanal der EFSA: EFSAchannel)

                                           

Vor dem Hintergrund dieses sehr breiten Aufgabenspektrums der EFSA existieren mehrere Gremien und Referate (engl. Panels & Units), die sich z.B. mit Kontaminanten, Pestiziden oder eben auch mit Ernährung beschäftigen. Das sog. "Referat Ernährung" mit dem dazugehörigen Gremiun für diätetische Produkte, Ernährung und Allergien (engl. dietetic products, nutrition and allergies; NDA) arbeitet entweder im Auftrag von Risikomanagern oder auf eigene Initiative hin und bearbeitet Anfragen zu Themen wie der Festlegung von Referenzwerten oder Höchstmengen für die Nährstoffaufnahme, Beratung zu Lebensmittelallergenen und neuartigen Lebensmitteln oder zu nährstoff-und gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmitteln, wobei  letzteres durch die Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 vom 20. Dezember 2006 geregelt wird und Gegenstand des Beitrags sein soll. Diese Verordnung wird auch öfter mal als Health Claims Verordnung bezeichnet. Im Grunde genommen besagt sie, dass nährwert-und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel, auch Nutrition and Health Claims genannt, auf Verpackungen nur dann angebracht werden dürfen, wenn diese vom NDA-Gremium des Referats Ernährung nach wissenschaftlicher Prüfung der Evidenz für diese Angabe autorisiert wurden. Damit konnte der Werbe-Wildwuchs auf Verpackungen à la "Produkt A aktiviert die Abwehrkräfte" (ohne hinreichende wissenschaftliche Untermauerung) gestoppt werden. Was genau Health Claims sind und einige zusätzliche Bemerkungen dazu macht im folgenden Video Frau Dr. Juliane Kleiner, Leiterin des Wissenschaftlichen Ausschusses der EFSA:

Achtung englische Aussprache der Dame ist gewöhnungsbedüftig ;)
What are health claims and how are they assessed?
(youtube-Kanal der EFSA: EFSAchannel)



Das NDA-Gremium, welches die Bewertung der von der Industrie eingereichten Health Claims mitsamt der angehängten Studien vornimmt, untersteht dem Vorsitz des Franzosen Prof. Martin Ambroise. Zusammen mit Medizinern, Ernährungswissenschaftlern uvm. bearbeiten sie die Anträge, die sie aus den Mitgliedsstaaten zugesandt bekommen in den folgenden Arbeitsgruppen :
  • Darm/Immun
  • Herz/Antioxidantien
  • Knochen/Zähne/Bindegewebe
  • Gewicht/Sattheit/Körperliche Leistungsfähigkeit
  • Denkfähigkeit/Nervensystem
  • "Botanicals"

Bis zum Januar 2008 wurden der EFSA 44.000 (!) Anträge für mögliche Health Claims überreicht, die es daraufhin zu bearbeiten galt. Da allerdings in dieser Liste ähnlich lautende Health Claims zu finden waren, kürzte die EFSA die Liste von 44.000 Anträgen auf verbliebene 4.600 Anträge. Bis zum heutigen Tag wurden 243 dieser Health Claims zugelassen und damit als wissenschaftlich ausreichend fundiert angesehen.1.796 Anträge wurden hingegen abgelehnt. Das bedeutet, dass von den bereits begutachteten, abgeschlossenen Anträgen ungefähr 12% positiv ausgefallen sind. Die über 2.000 ausstehenden Anträge fallen überwiegend in die Kategorie der "Botanicals", deren Bewertungen zurückgehalten wurde, da bisher noch einigermaßen unklar ist wie mit diesen botanischen Substanzen (traditionelle medizinische Kräuterprodukte) weiter verfahren wird.

Beispiele für abgelehnte Health Claim sehen wir hier:

  • Kinder Chocolate, the chocolate that helps to grow (tut mir leid, aber hahahaha!)
  • Anthocyanidines + proanthocyanidines - for stomach health
  • Antioxidants in coffee helps protect our cells against free radicals
  • Apple cider vinegar has body purifying and healing properties
  • Bifidobacterium cultures enhances natural immune function, helps maintain blood cholesterol


So amüsant manche abgelehnten Health Claims sind, man muss fairerweise klarstellen, dass selbst im Falle der Ablehnung eines bestimmten Health Claims nicht sofort davon auszugehen ist, dass der Claim auch unwahr ist. Das lässt sich aus verschiedenen Gründen sagen, denn es könnte sein, dass  sich der Claim in Zukunft als wissenschaftlich fundiert herausstellen könnte, nachdem weitere Studien angegangen worden sind. Außerdem besteht für viele Produkte die ungünstige Situation, dass manche Studiendesigns nicht berücksichtigt werden. So darf im Falle von Probiotika (z.B. Joghurt mit Bifidobakterien) kein sog. klinischer Endpunkt im Studiendesign gewählt werden. Ein klinischer Endpunkt wäre beispielsweise eine Erkrankung. Die Erkrankungshäufigkeit von Kontrollgruppe und Studiengruppe könnten dann verglichen werden und eine sinnvolle Prüfung der Wirksamkeit ermöglicht werden. Die EFSA lehnt allerdings solche Studien aus reglementativen Gründen ab, da es sich bei der Zielbevölkerung von Health Claims um gesunde Menschen handelt und das Lebensmittelprodukt kein Arzneiprodukt sei. Um eine Verbesserung der Lage herbeizuführen, gibt es sogar eine Initiative von "Darm-Forschern", welche Druck auf die EFSA ausübt, siehe hier. Wie groß der Einfluss der Lebensmittelindustrie auf genannte Initiative ist, ist mir jedoch unbekannt. Das müsste man prüfen.



Die vier unterschiedlichen Typen von Health Claims

1.) Verordnung (EG) Nr. 1924/2006, Artikel 13: Health Claims zu "allgemeinen Funktionen":

"verweisen auf die Bedeutung eines Nährstoffs oder einer anderen Substanz für Wachstum, Entwicklung und Körperfunktionen, auf Funktionen oder Verhaltensfunktionen auf schlank machende und gewichtskontrollierende Eigenschaften, die Verstärkung des Sättigungsgefühls oder die verringerte Energieaufnahme durch den Verzehr eines Lebensmittels"

Beispiele

  • Activated charcoal contributes to reducing excessive flatulence after eating
  • ALA (alpha linoleic acid) contributes to the maintenance of normal blood cholesterol levels
  • Consumption of arabinoxylan as part of a meal contributes to a reduction of the blood glucose rise after that meal
  • Pantothenic acid contributes to normal mental performance
  • Glucomannan in the context of an energy restricted diet contributes to weight loss



2.) Verordnung (EG) Nr. 1924/2006, Artikel 13(5): Health Claims zu "neuen Funktionen":

"behandelt Angaben, die auf neuen wissenschaftlichen Nachweisen beruhen und/oder für die ein sogenannter „Antrag auf Schutz geschützter Daten“ gestellt wird."

Beispiel
  • Water-Soluble Tomato Concentrate (WSTC) I and II helps maintain normal platelet aggregation, which contributes to healthy blood flow


3.) Verordnung (EG) Nr. 1924/2006, Artikel 14(1)a: Health Claims über die Verringerung eines Krankheitsrisikos:


Beispiele
  • Sugar-free chewing gum helps reduce tooth demineralisation. Tooth demineralisation is a risk factor in the development of dental caries.
  • Plant sterols and plant stanol esters have been shown to lower/reduce blood cholesterol. High cholesterol is a risk factor in the development of coronary heart disease.


4.) Verordnung (EG) Nr. 1924/2006, Artikel 14(1)b: Health Claims über die Entwicklung und Gesundheit von Kindern:


Beispiele
  • Docosahexaenoic acid (DHA) maternal intake contributes to the normal brain development of the foetus and breastfed infants.
  • Iodine contributes to the normal growth of children
  • Protein is needed for normal growth and development of bone in children.





Wer an allen bisher zugelassenen und abgelehnten Health Claims der vier verschiedenen Typen interessiert ist:




Wer sich darüberhinaus für alle Anträge interessiert unabhängig davon, ob sie gerade in Bearbeitung oder bereits abgeschlossen sind, dem empfehle ich folgende Datenbank:



Kritische Abschlussbemerkung


Blasphemisch könnte man am Ende aller Tage und nach all dem Gerede über evidenzbasierte Gesundheitsangaben natürlich fragen: "Wofür all das?". Ich denke es sprechen keine guten Gründe gegen eine wissenschaftliche Prüfung der gesundheitsbezogenen Lebensmittelwerbung, jedoch nur unter dem Vorbehalt, dass man der Ernährungsindustrie überhaupt erst die Möglichkeit zu solchen Health Claims zubilligt. Besser evidenzbasierte Angaben als vage und irreführende Angaben auf Lebensmitteln - ohne Zweifel. Noch besser wäre es, wenn ähnliche Regularien für Nahrungsergänzungsmittel (à la Purmeo) ausgeweitet werden und damit auch auf diesem Sektor wissenschaftliche Nachweise verbindlich werden. Man darf sich aber auch fragen, ob sich diese Entwicklung nicht in eine gänzlich falsche Richtung bewegt. Es ist kein Zufall, dass sich die meisten zugelassenen Health Claims auf die gut erforschte Wirkung von Mikronährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe) bezieht, denn in diesem Bereich kennen wir bestens beschriebene Mangelerscheinungen und Störungen, die bei unangemessener Zufuhr der betreffenden Substanz auftreten (z.B. mangelnde Zufuhr an Calcium führt zur Störung der Knochenmineralisation). Dementsprechend solide sind die Erkenntnisse über ihren Stoffwechsel. ABER: Wie werbewirksam und vor allem vernünftig (!) ist eine solche Werbung mit, man könnte auch sagen, Banalitäten, die bereits seit Jahrzehnten in Form von Gemeinplätzen im Verbraucherbewusstsein existieren? Beispiele sind:

  • Calcium is needed for the maintenance of normal bones 
  • Iron contributes to normal oxygen transport in the body 

Tauschen wir die Art der Irreführung und das Verwirrungspotential für Verbraucher etwa nur aus anstatt es wirklich zu beseitigen? Ist ein Lebensmittel, welches mit zusätzlichem Calcium angereichert wird und über einen Health Claim ausgelobt wird besser als ein Lebensmittelprodukt, das naturgemäß viel Calcium enthält, aber keinerlei Auslobung hierfür trägt?

Aus dieser Überlegung heraus finde ich es passend erneut mit dem Video aus meinem vorherigen Beitrag zum Thema Lebensmittelklarheit abzuschließen und das Vorstellen einer EFSA-Bewertung im Detail für den nächsten Beitrag anzukündigen.

Verbraucherzentrale Baden-Württemberg: Einfach nur Einkaufen.

Thomas Gantert

1 Kommentar:

  1. hey, lieben lieben dank für deinen tollen kommentar zu purmeo skepsis, es ist super interessant von welcher seite du die tbl. beleuchtest- herzliche gruesse shadownlight

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