Mit Errichtung der European Food and Safety Authority (EFSA) im Jahre
2002 und der Verabschiedung der Health-Claims-Verordnung 2006 wurde der Beginn
eines „evidenzbasierten“ Zeitalters auf dem Lebensmittelmarkt eingeläutet. Mithilfe
dieses Reglementativs wird sichergestellt, dass gesundheitsbezogene Angaben (Health
Claims) über Lebensmittel erst nach einer eingehenden wissenschaftlichen Überprüfung für die Produktwerbung eingesetzt werden dürfen. Welche Aufgaben die EFSA bei diesem Unterfangen zu bewältigen hat und wie
Health Claims charakterisiert sind, habt ihr bereits ausführlich im vorausgegangenen Blog-Beitrag erfahren. In diesem Beitrag werden wir anhand eines abgelehnten
Health Claims vom Lebensmittelhersteller Ferrero, Italien, >>Kinder Schokolade®,
die Schokolade, die Dir wachsen hilft<< aufzeigen wie ein typisches (hier: natürlich negatives) EFSA-Gutachten aussehen kann.
Form und Inhalt eines EFSA-Gutachten
Eine typische Stellungnahme der EFSA folgt der weiter unten abgebildeten Gliederung, die ich aus dem Englischen übersetzt habe und deren wichtigste Punkte ich fett markiert habe. Im Grunde genommen ist sie unterteilt in zwei wichtige Abschnitte:
1.) der unter 1. angeführte Abschnitt bezieht sich auf bereitgestellte Informationen, die vom Unternehmen ausgehen:
Darunter fällt die Bezeichnung des Lebensmittels, auf das sich das Health Claim beziehen soll, eine Angabe inwiefern das Lebensmittel in Beziehung zur Verbrauchergesundheit stehen soll, die begriffliche Ausformulierung des Health Claims wie vom Antragsteller erwünscht und genauere Angaben dazu in welchem Kontext der Konsum des Produktes eingebettet ist und für welche Personengruppen das Lebensmittel gedacht sind.
2.) der unter 2. angeführte Abschnitt bezieht sich auf die Arbeit der EFSA:
Darunter fällt die Entscheidung der EFSA, ob sie das Lebensmittel als genügend präzise charakterisiert ansieht, z.B. ob die Inhaltsstoffe bekannt und gut messbar sind und ob das Health Claim überhaupt gesundheitlich relevant ist. Darauf folgt die eigentliche wissenschaftliche Bewertung der vom Antragsteller vorgelegten Studien und eine Schlussfolgerung mit dem Ergebnis der Zulassung oder Ablehnung des Antrages.
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Gremiums-Mitglieder
Inhaltsangabe
Hintergrund
Aufgabenbereich
EFSA
Disclaimer
Danksagung
1.
Informationen bereitgestellt vom Antragsteller
1.1. Lebensmittel/Nahrungsbestandteil
wie vom Antragsteller bezeichnet
1.2. Angabe
des Antragstellers zur Gesundheitsbeziehung
1.3. Vorgeschlagene
Formulierung für den Health Claim
1.4. Spezifische
Nutzungsbedingungen wie vom Antragsteller vorgeschlagen
2.
Untersuchung
2.1. Charakterisierung
des Lebensmittels/Nahrungsbestandteils
2.2. Relevanz
der Wirkung zur Gesundheit des Menschen
2.3. Wissenschaftlicher
Nachweis der angegebenen Wirkung
Schlussfolgerung
Dokumentation
von der EFSA bereitgestellt
Literaturverzeichnis
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Jeder begutachtete Antrag auf Überprüfung der wissenschaftlichen Basis eines Health Claims wird im hausinternen „EFSA Journal“ veröffentlicht. Die Stellungnahme, auf die wir uns beziehen, könnt ihr hier finden:
Ich werde mich im folgenden nur auf die markierten, da wesentlichen, Punkte beziehen. Wesentlich sind sie deshalb, weil sie erhellende Einblicke liefern in die Gedankenwelt eines Lebensmittelunternehmens (Punkt 1.2) und in die wissenschaftliche Bewertungs-und Beratungsfunktion der EFSA (Punkt 2.3).
Ich mach mir die Welt - widdewidde wie sie mir gefällt
Im Gliederungspunkt 1.2 wird von der EFSA dargelegt wie sich das betreffende Lebensmittelunternehmen die gesundheitliche Wirkung ihres Produktes auf die Zielgruppe vorstellt. In unserem spezifischen Fall handelt es sich um Kinder-Schokolade®, einer "Milchschokolade mit wasserfreier Milchfüllung" von Ferrero. Die EFSA schreibt:
1.2. Health relationship as claimed by the applicant
According to the applicant, the consumption of Kinder Chocolate can be helpful to reach the nutrient requirements, especially for some groups of the population, such as children and young adults aged 4-21 years.
Kinder Chocolate is portioned in bars of 12.5 g, each of them having a caloric content of 70 kcal (293 kJ) between 2 % and 4 % of the daily energy requirement of children and adults aged 4-21 years. Moreover one portion of Kinder Chocolate (12.5 g) delivers 40 mg of calcium. With respect to calcium delivery, Kinder Chocolate can claim that it is the chocolate that helps to grow because of the changing behaviour in food preference in the young generation and to achieve a positive calcium balance according to food choice and taste evolution.
Die wissenschaftlich daher kommende Art der Argumentation des Süßigkeiten-Herstellers Ferrero täuscht leicht über die eigentlich schockierende Aussage des Textes hinweg. Der Süßigkeiten-Gigant ist davon überzeugt, dass das Produkt, wohlgemerkt eine echte Süßigkeit, hilfreich sein kann den Nährstoffbedarf von Kindern und jungen Heranwachsenden im Alter von 4-21 Jahren zu decken. Was ist an dieser Position richtig und was ist meeehr als falsch?
Oberflächlich gesehen, lässt sich einsehen, was Ferrero meint, wenn es schreibt, ihr Riegel könne helfen den Nährstoffbedarf zu decken. Das Unternehmen ist insofern nicht vollkommen verkehrt in seiner Argumentation, wo doch jedes Lebensmittel (essbarer Gegenstand, der Nährstoffe enthält und damit unserer Ernährung dient) per Definition schon einen Beitrag zur Deckung unseres Nährstoffbedarfs leisten muss, eben weil es ein Lebensmittel ist. Besonders spezifisch ist diese Art der Werbung zwar nicht, denn er gilt für jedes beliebige Lebensmittel, doch grundsätzlich Unrecht hat Ferrero damit nicht. Das Unternehmen sieht dieses Problem indirekt ein, indem es neben dem Energiegehalt des Produktes den Calciumgehalt positiv auslobt um die (angebliche) Wachstumsförderung ins Spiel zu bringen.
Hinsichtlich seines Beitrages zur Nährstoffversorgung sollte kritisch hinterfragt werden: Dient das Produkt wirklich nur der Deckung des Energie/Calcium-Bedarfs oder führt der Konsum eher zu einem Überschreiten des Energie/Calcium-Bedarfs des Kindes? Die Antwort auf diese Frage muss ausbleiben, da sie prinzipiell nicht zu beantworten ist. Denn die Frage beantwortet sich nur im Einzelfall, am konkreten Lebensstil des Kindes. Dennoch: Jeder von uns darf selbst beurteilen, inwieweit vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass eine Süßigkeit eher zur ersten oder zweiten Kategorie (also zur Deckung bzw. Überversorgung) zuzuordnen ist. Ich denke man kann annehmen, dass zumindest für den Energiebedarf die Antwort unerfreulich für das Unternehmen ausfällt. Ich kann mir keine geistig gesunden Mütter oder Väter vorstellen, welche ernsthaft annehmen, dass Kinder Süßigkeiten verzehren sollten, um deren Energiebedarf zu decken. Vom Karies-Risiko und damit von einer echten Gesundheitsgefahr für das Kind bereits abgesehen!
Brokkoli adé - Kinder-Schokolade® als gesunder Ersatz
Nun kommen wir zur Essenz des Health Claims, dem ausgelobten hohen Calciumgehalt unter dem Aspekt "Wachstum". Viel aufschlussreicher als die schnöde Tatsache, dass das Produkt an sich schon als veritable Calciumquelle erwogen wird, ist Ferreros Ansicht in welchem Kontext ein solcher calciumreicher Schokoriegel (gerade heutzutage!) überhaupt von besonderem Wert sein soll. Ferrero führt das veränderte Ernährungsverhalten, inklusive veränderter Lebensmittelauswahl und Geschmackspräferenz, der Kinder und Jugend ins Feld! Die Brisanz ergibt sich erst nach Entschlüsselung dieses umständlichen Begriffs-Codes. Im Klartext heißt es:
"Unsere Kinder und Jugend essen heute viel weniger und viel weniger gerne Lebensmittel, die naturgemäßg calciumhaltig sind (etwa Brokkoli). Stattdessen essen sie heute viel lieber süße und energiereiche Lebensmittel als früher. Wir haben also ein Lebensmittel entwickelt, das erstens der Süßpräferenz unserer Kinder entgegenkommt und zweitens berücksichtigt, dass Kinder und Jugendliche ungerne Gemüse essen. Das Ergebnis ist unsere calciumreiche Kinder-Schokolade®, eine Schokolade, die Kindern wachsen hilft. Aber nun bitte her mit dem Health Claim!"gez. Ferrero
Der Teil aus dem EFSA-Gutachten, welcher genau dieser (zur himmelschreienden) Logik von Ferrero folgt, liest sich übrigens recht unscheinbar und absichtlich akademisch:
"With respect to calcium delivery, Kinder Chocolate can claim that it is the chocolate that helps to grow because of the changing behaviour in food preference in the young generation and to achieve a positive calcium balance according to food choice and taste evolution."[Hervorhebung durch Autor]
Nimmt man die Argumentation von Ferrero ernst - diese krude Logik - darf man sich zu Recht fragen welche Überzeugungskraft von den inhaltsleeren Lippenbekenntnissen auf der Seite solcher Lebensmittelriesen ausgeht, die zu einer gesunden und ausgewogenen Kost aufrufen, zu einem vernünftigen Umgang mit Lebensmitteln und Süßigkeiten, zum Wert von Bewegung für unsere Gesundheit und natürlich zum Versprechen nur das Beste für unsere Kinder und Jugend zu wollen. Meine ehrliche Meinung: Wer einen Schokoriegel (Süßigkeit mit 40 mg Calcium) gegen eine sinnvolle und vielfältigere Calciumquelle* ausspielt, ist intellektuell und moralisch nicht mehr ganz beisammen.
*etwa Brokkoli:Calciumgehalt pro Portion i.d.R. wesentlich höher als 40 mg
Die wissenschaftliche Bewertung durch die EFSA: die Ablehnung
Im Gliederungspunkt 2.3 erfolgt die Untersuchung der EFSA, die die Gesundheitsbeziehung, wie vom Antragsteller angegeben, anhand der eingesendeten Studien auf ihren wissenschaftlichen Nachweis hin prüft. Im Falle von Ferreros "wachstumsfördernder Schokolade" wurden 39 Studien seitens des Unternehmens eingesandt. Davon entfallen:
13 Studien auf den Typ: Humaninterventionsstudie
man vergleicht eine Kontrollgruppe von Personen ohne Intervention (z.B. ohne zusätzlichem Calciumpräparat) mit einer Gruppe, welche das zusätzliche Calcium-Präparat einnahm.
12 Studien auf den Typ: humane Beobachtungsstudie
man beobachtet die Ernährung einer Gruppe von Menschen und analysiert hinterher wieviel Calcium sich die Einzelpersonen "natürlicherweise" zuführten, ohne ihre Ernährung "künstlich" zu beeinflussen.
14 Übersichtsartikel (review article)
wissenschaftliche Artikel, die viele Ergebnisse unterschiedlicher Studientypen zu einem begrenzten Thema zusammenfassen, mit dem Ziel ein größeres Bild zu skizzieren, z.B. zum Thema Calciumzufuhr und Wachstum im Kindesalter.
Laut EFSA-Gutachten bezogen sich die von Ferrero eingereichten Dokumente auf zahlreiche Wirkungen wie etwa auf Verdauungsbeschwerden von laktose-intoleranten Versuchspersonen bei Milchkonsum (vermutlich um die Vorteile ihres laktose-armen Schokoriegels hervorzuheben; möglicherweise auch um Gedeihstörungen von laktose-intoleranten Kindern bei Unterlassen von Milchkonsum (=Calciumzufuhr) als Argument für ihren calciumhaltigen Schokoriegel zu instrumentalisieren), der Calcium-Absorption -und Bilanz von laktose-intoleranten Personen, der möglichen Interaktion von Magnesium, Vitamin B6 und Vitamin C (vermutlich ebenfalls Bestandteile des Schokoriegels) auf die Calcium-Absorption und der Regulation der Nahrungsaufnahme uvm.. Mit Ausnahme von vier Studien stützen sich die Untersuchungen ausnahmslos auf erwachsene Probanden, welche nicht zur Zielgruppe des Health Claims gehörten. Die Studien an Kindern untersuchten die gleichzeitige Aufnahme von Calcium und Lactose in afroamerikanischen weiblichen Jugendlichen, das spontane Fraktur-Risiko und die Knochendichte in jungen Mädchen, eine weitere Studie untersuchte Trends in der Energie-und Fettzufuhr in jungen Kindern, eine andere den Calciumbedarf und den Knochenmineralgehalt von Kindern. Das Gremium der EFSA hat u.a. auf Grundlage der hier erwähnten Studien folgende Bewertung abgegeben:
"The Panel considers these studies as having limited relevance for the claimed effect as they relate either to specific groups not representative of the general population of children, e.g. lactose intolerant subjects, or to biomarkers and clinical endpoints that are not relevant to the claimed effect."
Übersetzt in einfache Sprache bedeutet die Stellungnahme der EFSA soviel wie: "Schön, dass ihr euch soviel Mühe gegeben habt diese vielen vielen Studien zusammenzustellen und anschließend einzureichen, aber in welchem Zusammenhang sollen sie bitte zu eurem gewünschten Health Claim stehen!? Experimente und Beobachtungen an Erwachsenen und laktose-intoleranten Kindern für eine Süßigkeit, die für gesunde Kinder und Jugendliche gedacht sind, ergeben wenig Sinn." Naja, man kann's ja mal probieren, dachte wohl Ferrero.
Die Experten erkennen ganz richtig, dass Untersuchungen an laktose-intoleranten Kindern nicht übertragbar sind auf die gesunde junge Bevölkerung, auf die das Health Claim abzielt. Desweiteren haben die vorgelegten Studien keinen oder kaum Bezug auf Indikatoren des kindlichen Wachstums, man erinnere sich an den Health Claim ("die Schokolade, die Dir wachsen hilft"). Ferrero versäumt schlichtweg Belege für ihre irrwitzige Annahme, ihre Schokolade würde beim Wachsen helfen, anzugeben. Auch zwei weitere angeführte Kurzzeit-Interventions-Studien, durchgeführt mit ihrem eigenen Produkt der Kinder-Schokolade®, ändern daran nichts und können die EFSA nicht umstimmen, was sich folgendermaßen liest:
"In addition, the applicant presented two unpublished short term intervention studies with the product (for which the claim is proposed) in a young adult study population (24-30 yr) (Marangoni 2008a, 2008b). The objectives of these two studies focussed on endpoints, such as effects on glucose metabolism, ghrelin levels, plasma lipid profile, inflammatory markers, blood pressure, body weight, body mass index and waist circumference.
The Panel considers that both studies with the product for which the claim is made were not performed in the target population of children and used various biomarkers/endpoints that were not directly related to growth."[Hervorhebung durch Autor]
Das endgültige Abschlussergebnis der Bewertung kann uns alle frohstimmen, denn es endete in einer wohlverdienten Ablehnung des Health Claims von Ferrero für ihre vermeintlich anabole Kinder-Schokolade®. Verwunderlich? Nein, denn Ferrero hat zwar Unmengen an Studien angeführt, aber keine, die ansatzweise dazu in der Lage gewesen wäre den wachstumsfördernden-/unterstützenden Effekt ihrer Schokolade zu belegen. In einer Zeit vor der Health Claim Verordnung hätte eine solche gesundheitsbezogene Angabe ohne große Schwierigkeiten den Weg auf das Produkt gefunden. Der vorgestellte Fall ist nur einer von vielen. Etwa 88% aller bereits begutachteten Anträge sind negativ ausgefallen. All diese Gutachten schließen mit diesem einen, sehr ähnlichen Satz ab, den man direkt proportional sehen kann zur Überheblichkeit der Lebensmittelindustrie, zum Drang zur Beschönigung und zum Flunkern, zum Täuschen und Schönfärben mit Kalkül und ohne jegliche Bedenken. Ich lese ihn gerne, denn er erinnert mich stets an ein Fünkchen Rationalität und Wissenschaftlichkeit. Schließt euch an. ;-)
"The Panel concludes that a cause and effect relationship has not been established between the consumption of Kinder Chocolate and the claimed effect of “helps to grow” in children and young adults."
Thomas Gantert
Da kann einem die EFSA echt Leid tun!!
AntwortenLöschenViele Grüße und herzlichen Glückwunsch zu deinen tollen Artikeln
Rike
Danke für deinen Kommentar Rike ! Grüße zurück :D
AntwortenLöschenHallo Thomas,
AntwortenLöschentoller Artikel. Aber was passiert denn genau, wenn die EFSA ablehnt? Was ist denn dann mit Produkten, die die abgelehnten Claims schon auf den Verpackungen haben? Gibt es dann Abverkaufsfristen oder HErstellerstops oder wie wird das dann geregelt? Es gibt ja auch zahlreiche Produkte,die trotz EFSA ABlehnung noch die falschen Claims drauf haben...